Warum entsprechen die Bewertungen in Zeugnissen häufig nicht der tatsächlichen Leistung?
Gründe für ein "zu schlechtes" Zeugnis
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Der Arbeitgeber ist verärgert über den Wechsel eines wichtigen Mitarbeiters zur Konkurrenz und lässt dies in das Zeugnis bzw. die Bewertung einfließen - ggf. auch, um Nachahmer abzuschrecken.
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Ein kurzer Streit, der auch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt hat (ggf. auch durch vorübergehende Leistungsmängel des Arbeitnehmers), und das dadurch zerrüttete Verhältnis schmälern die Bereitschaft des Ausstellers, die jahrelangen guten Leistungen angemessen zu würdigen.
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Der Aussteller nimmt die Beurteilungen nach seinen eigenen, unverhältnismäßig hohen Maßstäben vor und weniger nach objektiven Kriterien (z.B. schlechte konjunkturelle Rahmenbedingungen, die eine Zielerreichung verhindert haben).
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Der Aussteller strebt aus Gerechtigkeitsüberlegungen Arbeitszeugnisse an, die hinreichend zwischen den einzelnen Arbeitnehmern differenzieren. D.h. Arbeitnehmer werden an ihren Kollegen gemessen, auch wenn die Leistungen und Qualifikationen ggf. schwer vergleichbar sind (im Sinne von "Herr X arbeitet effizienter als Herr Y, daher bekommt er eine bessere Zeugnisnote").
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Der Aussteller möchte durch die konsequente Praxis, nur wahre Zeugnisse auszufertigen, die Arbeitnehmer von vorn herein zu guten Leistungen und zu positivem Verhalten motivieren. Dies führt im Zeugnis eher kritischen, ggf. harten Bewertung ohne Wohlwollen.
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Der Aussteller bemüht sich um differenzierte und informative Zeugnisse, da er anderen Arbeitgebern eine zuverlässige Beurteilungsgrundlage liefern möchte (dies ist entgegen dem Vorurteil, Zeugnisse seien Lobeshymnen, die Haltung vieler Aussteller).
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Der Aussteller fürchtet, sehr wohlwollende Arbeitszeugnisse könnten zu Schadensersatzansprüchen von Nachfolgearbeitgebern führen (wenn die Arbeitnehmer diesem Lob dort nicht gerecht werden) oder dem Ruf des Unternehmens schaden. Dies gilt insbesondere dann, wenn in einer Region die Arbeitgeber bzw. die Personalleiter persönlich miteinander bekannt sind.
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Der Arbeitnehmer hat sich das Zeugnis selbst erstellt und versehentlich wichtige Aspekte vergessen oder Formulierungen verwendet, die auf geübte Zeugnisleser negativ wirken, wie „wir wünschen ihm für die Zukunft alles erdenklich Gute“ (Note 5).
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Der Verfasser ist in der Zeugnisschreibung nicht geschult und ihm unterlaufen unabsichtlich Fehler, die auf den Leser negativ wirken.
Gründe für ein "zu gutes" Zeugnis
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Man möchte sich von einem Mitarbeiter trennen, die Gründe reichen aber für eine Kündigung nicht aus. Bei den Verhandlungen über eine einvernehmliche Trennung mit Abfindungsregelung fordert der Arbeitnehmer ein positives Arbeitszeugnis. An diesem kostenfreien Zugeständnis möchte man die Trennung nicht scheitern lassen.
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Der Aussteller ist konfliktscheu und will Diskussionen oder Streit vermeiden, die ihm keinen Nutzen bringen.
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Der Arbeitnehmer droht mit einer Klage. Der Arbeitgeber ändert das Zeugnis, weil er für einen unproduktiven Gerichtsstreit weder Zeit noch Kosten aufwenden will.
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Ein Arbeitnehmer droht, in einem eventuellen Gerichtsstreit bestimmte Interna publik zu machen.
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Dem Arbeitnehmer muss wegen Auftragsmangel oder zwecks Rationalisierung betriebsbedingt gekündigt werden. Man ist der Ansicht, dass bei dieser Sachlage ein wohlwollendes Zeugnis (sog. Gefälligkeitszeugnis) das Mindeste ist, was man für den Arbeitnehmer tun kann.
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Der Arbeitgeber überbewertet die Wohlwollenspflicht, die in der Praxis bekannter ist als der Wahrheitsgrundsatz.